"Tonios Reise ins Glück"...

… dauerte für die beteiligten Schülerinnen, Schüler und Lehrern ein ganzes Schuljahr und diese Reise war mit Mühe und Arbeit, aber auch viel Spaß bei den Proben verbunden – die Zuschauer hingegen durften bei den Aufführungen am 22. und 23. Juli 2014 gemeinsam mit Tonio und seinen Reisebegleitern sehr viel schneller das Glück suchen und natürlich auch finden! Denn was sie, die Eltern, Mitschüler, Freunde und Kollegen beim Musical erlebten, war nicht weniger als großes Glück: eine sagenhafte Leistung aller Beteiligten, allen voran von den Hauptdarstellerinnen, aber auch dem Chor, Claudia Puschl als Stimmbildnerin und Chorleiterin und vor allem natürlich von Jan Grenner in seiner Funktion als Komponist, Drehbuchautor, Texter, Regisseur, Toningenieur, Dramaturg und vieles mehr. Es wurde deutlich, dass die große Bühnenerfahrung, die Herr Grenner besitzt – er war an diversen Produktionen auch am Wiesbadener Staatstheater beteiligt – einer steter Quell der Inspiration für das nun von ihm selbst verfasste Musical war, von dem die Schüler in ungeheurem Maß profitierten. Herr Grenner verfügt als ausgebildeter Sänger selbst über ein großes Repertoire aus dem klassischen Bereich, Kunstlied und Oper, Musical, ist nebenbei ein hervorragender Pianist, der auch für Späße wie das Spielen in der Lehrerband zu haben ist, und er hat mit dem Musical demonstriert, wie ideen- und trickreich, witzig seine Songs sind, kunstvoll auch in den Arrangements, wie die von ihm selbst eingespielten Playbacks zeigten. Vor allem aber hat er den beteiligten Schülerinnen die Musik „maßgeschneidert“ und die passende Stimmlage ausgewählt, so dass die Sängerinnen sich nicht in zu tiefen Registern quälen mussten, sondern mit ihren klaren Stimmen verzaubern konnten. Und nicht zuletzt sind bei näherer Betrachtung auch die Texte lustig, hintersinnig und voller Sprachwitz, ein Vergnügen mit ihren vielerlei Anspielungen.

Hört man etwas genauer in die Musik hinein, so erlebt man eine Reise durch verschiedene Stilrichtungen, Genres des Musical-, außerdem Rock-, Pop- und Jazzbereichs, immer wieder witzig inspiriert.

Bereits im Intro – oder sagen wir besser in der Ouvertüre? – wird der Zuschauer mit den raffinierten Lichteinstellungen, den Tanzeinlagen – ja, die Chorkinder dürfen auch tanzen – gefangen genommen. Synkopische Rhythmen dominieren die Musik, die Fabrikmaschinen werden quasi lautmalerisch dargestellt, und man ist gleich „mittendrin“. Im ersten Song „Ich bin der Chef“ wird der Fabrikbesitzer charakterisiert, ein „Tango“, durch Trommelwirbel dramatisch untermalt, bedrohlich in Moll – aber der Wechsel zum freundlichen „Latin“ macht schon an dieser Stelle deutlich, in welche – positive – Richtung es noch hingehen wird, auch wenn an dieser Stelle Tonio noch wirklich leidet und damit den Gegenpart zum Chef bildet. „Pasodoble“-Anklänge winken zusammen mit der spanischen Gitarre bereits in Richtung Sommer und Sonne. Beide Chef-Darsteller, Johanna Wünsche (1. Abend) und auch Sharlene Büscher (2. Abend), überzeugen, setzen dabei eigene Akzente in ihrer Interpretation, und beide singen mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit – absolut gelungen, herrlich!

Das jüngst im Sommerkonzert erstmals aufgeführte Chorstück „Schaut ihn an“ hat wunderbare Ohrwurm-Qualitäten, ist gefällig und doch dramatisch, könnte auch dem Musical „Les Miserables“ entsprungen sein, und der Chor zaubert mit den bis zu dreistimmigen Gesängen eine wundersame Atmosphäre und unterstützt außerdem als Background-Chor Tonio in seinem folgenden Soloauftritt, in welchem er sein Schicksal beklagt. Bereits im anschließenden Auftritt wird aber schon musikalisch verdeutlicht, dass er dabei nicht verharrt, sondern voller Tatendrang und Abenteuerlust ist: Die Musik hat deutliche Varietéanleihen, augenzwinkernd mit Xylophon- und Akkordeoneinlagen, sie zeigt dabei „französische Anklänge“, man sieht förmlich Tonio entlang der Seine flanieren! Auch bei der Besetzung von Tonio kommt man in Versuchung, Katharina Schmitz (1. Abend) und Lilli Steffens (2. Abend) miteinander zu vergleichen, doch der Vergleich ergibt ein „Remis“: beide singen fabelhaft und mit einer wundervollen Leichtigkeit, beide zeigen verschiedene Facetten in ihrem schauspielerischen Ausdruck, jede auf ihre Art überzeugend und spannend beim Zuschauen.

Ebenfalls im folgenden Gauner-Song bleibt es witzig. Wir haben freundliche Gauner vor uns, die Musik hat beinahe „Dreigroschenoperanklänge“ mit einer fröhlichen Klarinette, gewürzt mit einer Prise Galgenhumor durch ein klein wenig bedrohliche „Dur-Moll-Wechsel“: Pat und Patachon auf der Reise auch ins Glück, herrlich dargestellt durch Eleana Tsehaye bzw. Mathilda Gorr und Katharina Pfaff (unterschiedlich in Erst- und Zweitaufführung besetzt)!

Der erste „Hexenritt“ der Fee Allegria wird quasi leitmotivisch mit chromatischen auf- und abwärts fließenden Xylophonläufen vorbereitet, es finden sich abermals Varieté-Anklänge, Allegria singt ihre Ballade, in der sie von ihren Wunschträumen berichtet („wär ich gern `ne böse Hex“), begleitet von einer kleinen Combo. Isabel Süptitz Gesang ist hier und im Folgenden nicht nur wundervoll, sie beweist auch komödiantisches Talent. Bis zum nächsten großen Gesangsauftritt, dann durch den Hund Amadeus, passiert nun viel: Allegria muss ihrer Rolle als Glücksfee gerecht werden und reicht dem Tonio die verzauberte Glücks-Trillerpfeife. Infolge der wundersamen Wirkung fängt der Hund Amadeus das Sprechen (und Träumen!) an und er stellt sich in einem herrlich „träumerischen“ Song vor, einem Song, der in Richtung Kunstlied weist und beinahe Schattierungen eines spätromantischen Strauss-Liedes zeigt: besonders raffiniert der Adagio-Mittelteil mit seinen alterierten Akkorden, der Melodik mit ihren schwelgerischen Sekund- und Terzschritten – auch ein Sextsprung darf sein und die Liebe zur Poesie hervorheben – der rhythmischen „Triolen gegen Duolen“-Besonderheit, welche das schwelgerische Moment weiter unterstreicht, alles in weich fließendem Legato, vollgriffig und satt in ihrer harmonischen Farbigkeit. Amadeus zeigt sich als Freund der Literatur, untermalt von schmeichelnden Klavier- und Streicherklängen, romantisch und dramatisch zugleich. Noelia Novajas Fernandez spielt nicht nur den Hund Amadeus, sie verschmilzt mit ihm, sie ist der Hund, einfach phänomenal.

Und nun gehen Tonio und Amadeus auf die Reise, und erstmals wird es leicht „rockig“, sie sind voller Tatendrang und guter Laune und singen „Ich geh meinen Weg“. Das folgende Chorstück kann dazu stilistisch kaum einen größeren Kontrast bilden: Im „Singt, lachet und springt“ wird ein Sechs-Achtel-Takt verwendet, mit Cembalo und Streichern sind barocke Anklänge zu verzeichnen, wie eine beschwingte „Gigue“ feierlich-festlich, mit eleganten Tanzbewegungen vom Chor umgesetzt, immer wieder ist die durchdachte und bewegungsreiche Choreographie zu bewundern. Und sogleich folgt der nächste Kontrast, einer der witzigsten Höhepunkte des ersten Teils: im besten Sinne an den „Anmacher (Horst)“ aus „Linie 1“ erinnernd folgt der „Beauty Queen Rap“ (grandios Eleana Tsehaye): über einem E-Bass-Ostinato mit Drums und  Background-Choreinwürfen rappt die Beauty Queen und frönt ihrer eigenen Schönheit und ihrer eigenen „Glücks-Philosophie“. Und unser Literaturfreund Amadeus weiß hier und im Folgenden immer wieder die Welt­anschauungen berühmter Personen zum Thema Glück zu zitieren.

Gefällig wird es dann mit der Allegria-Ballade, sanfte Klavierläufe bilden den „Begleitteppich“, über dem Allegria von ihren Missgeschicken berichtet – man weiß aber auch hier dank der Musik, dass es noch ein gutes Ende nehmen wird.

Im folgenden „Streitgespräch“, dem Duett „Du hast`n Knall“ von Tonio und Amadeus, wird ein Ausflug ins „Jazzige“ unternommen, eine Hammond-Orgel und E-Gitarren-Einlagen sorgen für „Dynamik“ und gute Laune, ein fetziger Blues, synkopisch durchbrochen.

Und nun folgt der Chef, mit traurigen Triolen und Streicherklängen beklagt er sein Schicksal, er wurde vom Gauner-Duo ausgeraubt: tief gesungen, mit ostinaten verschobenen Akzentuierungen in der Begleitung und dem einprägsamen „Sekund-Motiv“ im Thema.

Aber da die Gauner nicht wirklich böse sind, gründen sie ein Kinderheim, welches sie besingen. Mit E-Gitarre, Schlagzeug und E-Bass wird es wieder „fetziger“, das gute Finale kündigt sich an, der schließlich hinzukommende Chor verdeutlicht die fröhlichen Kinderheim-Kinder, Moll-Einwürfe sorgen für dramatische Einschübe: „Les Miserables“ lässt grüßen. Und mit den chromatischen Xylophonklängen kündigt auch Allegria wieder ihr Erscheinen an – amüsant hierbei der Auftritt von Technik-Timm (Timm Weihrauch) als Postbote.

Im großen Finale sind nun alle vertreten, es erfolgt die große Versöhnung – selbst mit dem Chef, der einbezogen wird, musikalisch eingebunden im Kreise seiner Freunde. Alles ist gut, denn das Glück gefunden hat nicht nur Tonio, nicht nur Amadeus oder wir Zuschauer, sondern alle gemeinsam, und gehen immer „weiter auf der Lebensleiter hinter den Horizont“.

 

U. Becker

Fotos: Andreas Koch
 

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