Das Genie des Jahrhunderts

Das Genie des Jahrhunderts

Einmal habe ich vor Trauer ein paar Stunden geweint und kein Wort ausgesprochen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann das war, aber ich kann sagen, dass ich dabei war, alte Familiensachen durchzusuchen, um meine alten Bücher an ein Museum zu spenden. Nun, bitte, versteht mich nicht falsch, es gibt kaum eine andere so interessante und spannende Beschäftigung für mich wie das Lesen, jedoch, seitdem ich der Gründer der weltweit größten Firma für Elektrotechnik, Ehemann, Vater von vier Kindern, Opa von zehn Enkeln und stolzer Besitzer von zwei Hunden geworden bin, ist die einzige einsame Zeit, die ich verbringe, die, wenn ich vor dem Zubettgehen auf die Toilette gehe.

Ich beschwere mich dafür nicht, ganz im Gegenteil, es gab schwierige Zeiten, Zeiten, in denen ich in Armut leben musste. Ich musste betteln, klauen, auf der Straße lernen zu überleben und wusste nicht, ob ich am nächsten Tag doch nicht vor Hunger sterbe, und das, als ich nur siebzehn war.

Es war aber nicht immer so. Mein Vater, ein junger Mann aus reicher Familie, verliebte sich in meine Mutter. So gründeten Sophia Schulz und Samuel Mark eine Familie und waren eine Weile glücklich zusammen. Sie bekamen sogar ein Baby namens Elias. Wie ihr schon vielleicht vermutet - das war ich. Sie waren glücklicher denn je, als mein Vater von schwerer Krankheit getroffen wurde, wahrscheinlich von all dem Stress, der von der Arbeit kam. Dennoch, er hatte so viele Schulden, um die er sich kümmern musste. Nach einem Jahr kam mein alter Herr ums Leben. Mutter hatte die Schulden unseres verstorbenen Vaters geerbt. Sie konnte sie nicht bezahlen, da das Unternehmen meines Vaters pleitegegangen war. Deswegen, als ich fünf war, sind meine Mutter und ich aus unserem kleinen Dorf, das sich in der Nähe von Frankfurt befand, nach Berlin gezogen bzw. geflohen.

Im Jahr 1865 sah ich mit eigenen Augen die Hauptstadt des Deutsches Reiches, so was hatte ich nie zuvor gesehen: Kilometerlange und ziemlich breite Straßen, prachtvolle Gebäude und atemberaubend schöne Geschäfte, doppelt so groß wie das Rathaus unseres Dorfes. Und trotz seiner Großartigkeit wirkte die machtvolle Stadt kalt, als ob ihr Barmherzigkeit und Empathie fehlten. Jeder ging seines Weges und interessierte sich für keinen anderen außer für sich.

Mein Onkel, der Cousin meiner Mutter, gab uns Obdach, dafür musste meine Mutter im Haushalt helfen. Bei mir fing alles wieder normal an. Ich wurde sieben und ging jetzt schon seit ein paar Monaten zur Schule, hatte aber keine Freunde gefunden. Daran war ich schon gewöhnt. Schon als kleines Kind hatte ich nur einen Freund, der aber an Tuberkulose starb. Einsam fühlte ich mich nicht, meine Mutter und teilweise mein Onkel waren für mich da, um mich zu unterstützen, vor allem meine Mutter!

Eines Tages kam ich nach Hause und ging zu Mutter mit einem Brief von meinem Klassenlehrer: „Der Lehrer sagte nur, du solltest es lesen!” Sie nahm den Brief, machte ihn auf und las. Ich hatte das Gefühl, sie war schon längst fertig, als sie das weiße Papier sprachlos anstarrte. Sie setzte sich hin und fing an zu weinen. “Mutter, was steht drin?“ habe ich ungeduldig gefragt.

Sie faltete den Brief zusammen, umarmte mich, atmete tief durch und sagte. „Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.“

Meine Mutter unterrichte mich ein paar Jahre. Ich war ziemlich gut in Physik und Chemie. Ich fing an, selbständig zu experimentieren und verbrachte meine Zeit meistens mit Lesen. Mit zwölf hatte ich schon meine erste eigene Erfindung, die Glühlampe, und mit fünfzehn machte ich eine Erfindung, die viel später das Erfinden des Fernsehers ermöglichte.

Mein Onkel Heinrich war ein Pastor. Er hatte eine andere Sicht auf die Welt. Ich, im Gegensatz zu ihm, war nicht wirklich gläubig. Heinrich sagte, meine Erfindungen seien von dem Teufel geschickt worden. Er verbot mir zu experimentieren oder überhaupt zu lernen. Ich hatte keine Wahl, dennoch wohnte ich bei ihm, ich musste auf ihm hören. Das tat ich aber selbstverständlich nicht. Ich setzte meine Arbeit fort, diesmal aber nur in seiner Abwesenheit. Meine Mutter schien mich zu unterstützen, oder zumindest hinderte sie mich nicht daran weiterzumachen.

Eines Tages geschah es wie aus dem Nichts heraus. Mein Onkel erwischte mich beim Lernen. Ich versuchte meine erste Erfindung, die Glühlampe, zu verbessern, da sie immer wieder nach wenigen Minuten durchbrannte, als Heinrich in den Raum reinkam und mir eine verpasste. Er schaute mir wütend in die Augen. „Die Tür ist da, und lass dich hier nicht wieder blicken!“ schrie er. Ich hatte kaum Zeit, meine Sachen zu packen, als er mich am Hals packte und rausschmiss. Ich saß vor der Haustür für mehrere Stunden. Es war kalt und dunkel. Ich fror und versuchte alles, was gerade geschah, in meinem Kopf kurz zusammenzufassen, da ich ziemlich verwirrt war. Dann kam meine Mutter zu mir, gab mir eine Decke und setzte sich neben mich auf die Treppe vor der Tür. „Elias, ich kann und darf dir nicht helfen. Mein Wort zählt hier nicht. Aber egal was passiert, du muss wissen, du bist ein Genie!”, sprach sie leise in meinem Ohr. Sie versuchte nicht zu weinen, aber ich konnte das Zittern in ihrer Stimme hören. Schließlich küsste sie mich auf die Stirn und verschwand ins Haus.

Nichts als fort, dachte ich mir. Ich nahm keine Klamotten mit, stattdessen hatte ich viele Bücher eingepackt und all das, was auf meinem Schreibtisch lag, inklusive, meiner Meinung nach, einen der wichtigsten Gegenstände, die ich derzeit besaß: die Glühlampe, die damals die einzige ihrer Art war. Deswegen bewahrte ich sie sicher bei mir in meinem großen Koffer mit all den anderen Sachen auf.

Und so war ich mit siebzehn obdachlos. Wie gesagt, ich musste klauen und hatte oft tagelang nichts gegessen. Nach ein paar Monaten Leben auf der Straße kannte ich schon die Hälfte der Namen der berlinerschen Straßen auswendig und egal, auf welcher Distanz ich reisen musste, um nach Essen zu suchen, hatte ich immer meinen Koffer voll Bücher mit.

Das Leben auf der Straße hatte einen einzigen Vorteil: Es gab keinen Heinrich, der mir irgendwas verbieten konnte. Ich hatte meine Zeit nur für mich allein und selbst wenn ich am Verhungern war, las ich meine alten Wissenschaftsbücher. Mein Onkel hatte die Motivation, die ich bereits hatte, nur verstärkt. Ich wusste weder, ob ich am nächsten Morgen aufwachen würde, noch ob ich meine Bücher nicht verlieren würde. Ich hatte kein Papier oder irgendwas zum Schreiben, deswegen, um mir die Sachen besser zu merken, hatte ich alles mindestens viermal gelesen, was mir nichts ausmachte, da ich immer wieder etwas vergaß.

Das Jahr 1879, der Tag 24. Mai. 2 Monate, seitdem ich in keinem Bett geschlafen hatte und kein warmes Essen probiert hatte. Ich wachte auf und tastete meinen Koffer an, um sicherzustellen, dass er noch neben mir lag. Ich stand auf und machte mich auf dem Weg zur Bäckerei, da kriegten die Obdachlosen immer was zum Essen, natürlich nicht aus Mitleid, sondern damit wir nicht rumstehen und ihren Kunden um Geld anbetteln. Und da, vor dieser Bäckerei, sah ich das Poster. Auf dem Poster stand es mit großen Buchstaben: IFA, Internationale Funkausstellung, Berlin, Jafferstraße 10, am 04.06., Mittwoch. Kommen Sie, damit wir zusammen die Welt moderner machen!

Das war meine Chance, auf die ich so lange gewartet hatte, weswegen ich nie aufgegeben hatte. Ich hatte genau genommen zehn Tage, um mich vorzubereiten, und das tat ich auch. Die Ausstellung wurde zu meiner eigenen Bühne. Jeder fand meine Idee faszinierend, und es interessierte keinen, wie ich aussah oder woran ich glaubte. Nach der Ausstellung ließ ich meine Erfindung patentieren und wurde einer der reichsten Männer der Welt. Der Rest ist Geschichte. Die Schlagzeilen sprechen für sich selbst „Wie ein 17-jähriger zum Millionär wurde”, Elias Mark sagt: „Ich werde die Elektrizität so billig machen, dass nur die Reichen Kerzen anzünden.”, und das ist meine Geschichte, in der Tat habe ich es geschafft, Millionen daraus zu machen und die Welt zu verändern. Ich hatte wieder Kontakt mit meiner Mutter und das, was mein Onkel getan hat, blieb für immer in der Vergangenheit. 

 

            Jetzt zurück zum Thema. Ihr fragt euch schon, was so spannend sein kann, dass es einem die Sprache vor Begeisterung verschlägt. Natürlich, das waren nicht die alten Business-Bücher, denn die habe ich bereits mehrmals gelesen.

Etwas viel Älteres hatte mein Interesse erweckt, nämlich ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier. Ich habe es erkannt, ich traute meinen Augen nicht, konnte es wirklich das sein? Unmöglich, dachte ich mir, wie ist es denn hierher geraten. Ich setzte mich hin und machte das Stück Papier auf, auf dem Blatt stand geschrieben: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben!” Ich war schon längst fertig, als ich den Zettel anstarrte und angefangen hatte zu weinen. Ich weinte stundenlang und dann, als ich endlich aufgehört hatte, machte ich mein Tagebuch auf, nahm einen Kugelschreiber und schrieb: „Elias Mark war ein geistig behindertes Kind. Durch seine heldenhafte Mutter wurde er zum größten Genie des Jahrhunderts!“           

 

Dimitar Markov, 7d  

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